Andrea Nahles spricht Klartext

Bundespolitik

"Kapitalismus-Kritik gehört zur DNA der SPD"

SPD-Fraktionschefin Nahles spricht im BamS-Interview offen über Sexismus-Erfahrungen in der Politik. Zudem fordert sie eine Debatte über den "Kapitalismus moderner Prägung" und erklärt, was ihre Fraktion künftig anders machen will als in der Großen Koalition.

BILD am SONNTAG: Frau Nahles, sind Sie eine Trümmerfrau?

Andrea Nahles: Nein, das ist angesichts der enormen Leistungen der echten Trümmerfrauen nach dem Zweiten Weltkrieg ein schräger Vergleich.

Die SPD musste erst auf 20,5 Prozent abstürzen, bis man auf die Idee kam, eine Frau als Retterin zur Fraktionschefin zu machen.

Eine Frau an der Spitze hätte es in der Tat auch schon früher geben können und sollen.

Nach der Wahlschlappe hat SPD-Chef Martin Schulz angekündigt, dass die SPD weiblicher werden soll. Warum ist das wichtig?

Für Frauen ist es immer noch schwerer, ganz nach vorne zu kommen. Als Fraktionsvorsitzende werde ich …

die Führungspositionen in der Fraktion gleichberechtigt mit Männern und Frauen besetzen. Da haben wir einen klaren Vorteil: 41 Prozent der SPD-Abgeordneten sind weiblich. In der CDU ist der Anteil auf weniger als 20 Prozent gesunken, von der FDP will ich gar nicht sprechen. Das ist dramatisch! Und es zeigt: Das Projekt der Frauenförderung ist noch lange nicht abgeschlossen, nur weil es jetzt eine Fraktionsvorsitzende gibt.

Ist Politik immer noch ein Machogeschäft?

Ja.

Woran machen Sie das fest?

Immer, wenn ich es in ein Gremium geschafft hatte, stellte ich fest: Es gibt noch ein höheres, informelles Gremium, in dem die Männer die Entscheidungen unter sich treffen. Mit einer Frau an der Spitze ist dieses Muster nun durchbrochen.

Haben Sie einen Tipp für Frauen?

Frauen sollten sich besser vernetzen. Das beherrschen Männer hervorragend. Bei ihnen funktionieren die "Lobe-Kartelle". Wenn einer von ihnen etwas tut, preisen ihn die anderen – sozusagen automatisch. Da müssen wir Frauen besser werden.

Was machen Sie als Fraktionschefin anders als Männer?

Ich lege mehr Wert auf Teamarbeit. Gemeinsam sind wir stärker. Und die Vereinbarkeit von Familie und Beruf ist wichtig. Als alleinerziehende Mutter weiß ich, wie schwer das ist.

Unter dem Schlagwort "Me too" gibt es eine Sexismus-Debatte, ausgelöst durch den Filmproduzenten Harvey Weinstein. Selbst die schwedische Außenministerin berichtet, bei einem EU-Treffen betatscht worden zu sein. Wo beginnt für Sie Sexismus?

Eine typische Sexismus-Erfahrung ist, dass Frauen nicht ernst genommen werden. Oder es wird eine körperliche Grenze nicht respektiert, obwohl die eigene Haltung klar ausstrahlt: Ich will das nicht. Welche Frau kennt das nicht? Ich natürlich auch.

Zum Beispiel?

Ich habe in meinem Leben unglaublich oft gehört: Die kann das nicht. Oder: Sie ist noch nicht so weit. Bei Frauen wird sogar noch die Qualifikation angezweifelt, wenn sie bereits sehr erfolgreich im Leben stehen. Ich kenne nichts Vergleichbares bei Männern. Auch körperliche Übergriffe, passieren Männern in der Regel nicht. Und bei Frauen steht viel zu oft das Aussehen im Vordergrund. Angenehm ist das nicht, aber ich habe da ein dickes Fell. Sonst könnte ich den Job nicht machen.

Die SPD hat sich bislang als Partei für "die kleinen Leute" bezeichnet.

Von mir haben Sie das nicht gehört. Ich finde den Begriff paternalistisch, denn er behandelt die Leute von oben herab. Die Menschen brauchen keine Floskeln, sondern Antworten auf ihre konkreten Probleme und berechtigten Sorgen. Dafür müssen wir mehr mit den Leuten sprechen, mehr zuhören. Deshalb war eine meiner ersten Aktionen als Fraktionschefin der Start von „Fraktion im Dialog“: Wir Abgeordneten werden auch im November wieder raus auf die Straße und von Tür zu Tür gehen. Das darf nicht nur im Wahlkampf stattfinden.

Braucht die SPD auch eine neue Sprache?

Ja. Wir haben bei unserer Sprache viele Fehler gemacht. Wir waren oft viel zu technisch. Als es um ein gerechtes Rentenniveau ging, haben wir immer eine Zahl genannt: 48 Prozent. Das ist wichtig, klar - hat bloß kaum einer verstanden. Wie in dem Buch "Per Anhalter durch die Galaxis", wo die Antwort auf die Frage nach dem Sinn des Lebens lautet: "42". Damit können die Menschen nichts anfangen. Wir müssen als SPD an unserer Sprache arbeiten. Sie muss klarer und emotionaler sein, so wie in der Kaffeepause im Büro gesprochen wird.

Martin Schulz will nach der Wahlschlappe wieder die Systemfrage stellen. Lehnt die SPD jetzt den Kapitalismus ab?

Die SPD hat noch nie einen Altar für den Kapitalismus aufgebaut. Das macht die FDP. Kapitalismus-Kritik gehört vielmehr zur DNA der SPD. Deshalb müssen wir eine Debatte über den modernen digitalen Kapitalismus führen. Giganten wie Facebook und Google wollen ein neues Recht mit weniger Arbeitnehmerrechten schaffen. Die Ideologie des Silicon Valley verfolgt eine andere Idee als unsere soziale Marktwirtschaft. Wir müssen uns fragen, ob wir das einfach hinnehmen und kopieren und damit die Grundlagen unserer Demokratie unterhöhlen wollen oder etwas dagegen setzen.

Ihre Antwort?

Wir brauchen zwingend eine Debatte über den Kapitalismus moderner Prägung. Wir brauchen eine Mindestbesteuerung für Unternehmen, die bei uns Milliarden verdienen, aber nichts zum Gemeinwohl beitragen. Und es kann nicht sein, dass Firmenverwertungsrechte von Daten über den Daten-Eigentumsrechten der Bürger stehen. Wir werden mit den anderen Sozialdemokraten in Europa eng zusammen arbeiten, um gemeinsame europäische Standards zu definieren.

Sie haben sich mit Kanzlerin Angela Merkel immer gut verstanden. Wie wollen Sie jetzt als Oppositionsführerin auf "in die Fresse" umschalten?

Das war nur ein Scherz im Kabinett mit den Unionskollegen – sie haben ihn verstanden. Meine Haltung ist: Hart aber fair. Mir wird es nicht schwer fallen, Frau Merkel in die Pflicht zu nehmen. Ihre Europapolitik ist sehr kleines Karo. Statt die EU mit eigenen Ideen voranzutragen, verwaltet sie nur. Die SPD muss jetzt die großen Fragen auf den Tisch legen und zu Antworten drängen.

Warum haben Sie das nicht in der Regierung getan?

Auch wir haben uns in der Großen Koalition im kleinen Karo verfangen. Ich meine das sehr selbstkritisch. Die Wahlanalyse 2013 war: Unser Programm war gut, aber die Leute haben nicht geglaubt, dass wir es umsetzen. Also haben wir geglaubt, dass wir nur unsere Wahlversprechen erfüllen müssen, dann würde das Vertrauen der Wähler zurückkehren. Wir haben Wort gehalten, aber das hat nicht gereicht. Das war auch mein persönlicher Irrtum.

In dieser Woche haben die Jamaika-Sondierungen begonnen. Wie bewerten Sie die ersten Gespräche?

Die Liberalen laufen schon wieder herum wie die Halbstarken. Sie haben 10 Prozent der Stimmen geholt, aber man hat das Gefühl, Herr Lindner will der ganzen Republik diktieren, wo es lang geht. Diese angeblich neue FDP kommt mir doch sehr bekannt vor. Trotzdem bin ich sicher, wird die schwarze Ampel zustande kommen. Natürlich wird es während der Verhandlungen dramatisch ruckeln, aber am Ende wird es gelingen, weil CDU, CSU, FDP und Grüne diese Koalition unbedingt wollen.

Die SPD-Minister sind ab nächster Woche nur noch geschäftsführend im Amt bis die neue Koalition steht. Wann ziehen Sie Ihre Leute aus der Regierung ab?

Auch in der Opposition übernimmt die SPD Verantwortung. Europa ist in einer schwierigen Lage, da lassen wir kein Vakuum entstehen. Ich erwarte aber, dass Union, FDP und Grüne endlich einen klaren Fahrplan vorlegen: Wann wir mit einem Verhandlungsergebnis rechnen können, wie lange die Parteien brauchen, um über den Koalitionsvertrag abzustimmen, bis wann die neue Regierung vereidigt sein soll.

In der Opposition sitzen Sie zwischen AfD und Linkspartei. Ist es denkbar, dass die SPD-Fraktion einem Antrag der AfD im Parlament zustimmt?

Nein. Es wird keine inhaltliche Kooperation mit der AfD-Fraktion geben. Die Gesamtideologie der AfD ist für uns inakzeptabel.

Werden Sie am Dienstag den AfD-Kandidaten Glaser als Bundestagsvizepräsidenten wählen?

Wir haben bewusst darauf verzichtet, Herrn Glaser reflexartig abzulehnen. Wir sollten uns keinen Wettbewerb in der Ablehnung der AfD liefern. Aber es gibt Zitate von Herrn Glaser, in denen er dem Islam die Religionsfreiheit abspricht. Wir werden niemanden wählen, der die Werte unseres Grundgesetzes nicht achtet. Unser Fraktionsgeschäftsführer Carsten Schneider und ich haben deshalb Herrn Glaser vor zwei Wochen einen Brief geschrieben. Wir haben ihn gefragt, ob er immer noch zu seinen Aussagen steht. Bislang hat er nicht geantwortet.

Was bedeutet das für Sie?

Es ist sehr befremdlich, wenn sich ein Abgeordneter, der als Vizepräsident den gesamten Bundestag repräsentieren soll, den Fragen anderer Fraktionen bereits im Vorfeld verweigert. Das widerspricht allen Regeln eines Parlaments. Gibt es keine Antwort, ist das für die SPD also zusätzlich eine klare Aussage.

(Quelle: SPD-Bundestagsfraktion und Bild am Sonntag)

 
 

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